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„Mama, komm und hol mich hier raus.“
Auf diese Worte hatte Natalia Zhornyk verzweifelt gewartet.
Wochen zuvor waren russische Truppen in eine Schule in Kupjansk in der Nähe von Charkiw in der Ukraine gekommen – in die Schule, in die Natalias 15-jähriger Sohn Artem jeden Tag ging, wie ein normaler Schuljunge.
Sie nahmen Artem und ein Dutzend seiner Mitschülerinnen und Mitschüler mit.
Natalia erzählte Journalisten, dass sie wochenlang keine Ahnung hatte, wo er war.
Sie wusste nicht, ob er noch am Leben war.
Dann endlich rief er sie an. „Mama, komm und hol mich hier raus,“ sagte er zu seiner Mutter am Telefon.
Natalia brauchte Monate, um ihren Sohn zu finden und ihn zurückzuholen.
Es gelang ihr, den Ort im russisch besetzten Teil der Ukraine aufzusuchen, an dem der Junge sich befand, und ihn nach Hause zu bringen – endlich wieder zurück in ihre Arme.
Artems und Natalias Geschichte ist eine von vielen.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs haben russische Behörden Tausende ukrainische Kinder in von Russland besetzte Gebiete und nach Russland selbst verschleppt und deportiert.
Die Kinder, die es geschafft haben, zurückzukehren – wie Artem – erzählen schockierende Erlebnisse:
Wie sie gezwungen wurden, Russisch zu sprechen und die russische Nationalhymne in russischen Kinderheimen zu singen.
Wie ihr Name und ihr Alter geändert wurde, um ihre Identität zu löschen, um sicherzustellen, dass ihre Eltern sie nie wieder finden würden.
Wie ihnen gedroht wurde, von russischen Familien adoptiert zu werden.
Seitdem ich von diesen Verbrechen erfahren habe, muss ich immerzu daran denken, wie ich mich fühlen würde, wenn diese Kinder meine eigenen beiden kleinen Töchter wären.
Und ich weiß, dass es Kolleginnen und Kollegen aus Afrika, Asien und Lateinamerika genauso geht.
Bei dem jüngsten Besuch einer Delegation afrikanischer Staats- und Regierungschefs in der Ukraine und in Russland haben sie sehr deutlich gemacht, dass die Menschlichkeit in Bezug auf diese Kinder an erster Stelle stehen muss.
Lassen Sie uns an diesem Thema arbeiten – gerade weil ich mir bewusst bin, dass wir in dieser Runde nicht zu allen Aspekten dieses Krieges einer Meinung sind.
Die Menschlichkeit aber verbindet uns.
Wir allen haben die Tragödie von Krieg in unseren Regionen erlebt.
Doch wenn ein Aggressor nicht einmal vor Kindern Halt macht, verwandelt sich die Tragödie in entsetzliche Unmenschlichkeit.
Daher haben die afrikanischen Kolleginnen und Kollegen als erste vertrauensbildende Maßnahme die Rückgabe der verschleppten Kinder vorgeschlagen.
Ich möchte mich ihrem Vorschlag von ganzem Herzen anschließen: Ich möchte Sie alle einladen, sich mit internationalen Organisationen, ukrainischen Behörden und NGOs zusammenzutun, um Russlands Deportationen zu untersuchen und gemeinsam Wege für die Rückkehr der Kinder nach Hause zu finden.
Trotz aller unserer Differenzen sollte eins unumstritten sein:
Die deportierten Kinder gehören zu ihren Eltern.
Sie müssen nach Hause, nach Hause in die Ukraine zurückgebracht werden. Und zwar jetzt.
Zu Russland möchte ich sagen: Sie können sich selbst etwas vormachen. Aber der Welt können Sie nichts vormachen.
Denn die Welt war in den letzten 500 Tagen in Butscha, Irpin und Charkiw.
Die Welt sieht die russischen Gräueltaten. Die Welt spricht mit Müttern wie Natalia, deren Kinder von Ihrer Regierung verschleppt wurden.
Der Schrecken der deportierten ukrainischen Kinder ist die Spitze des Eisbergs des unsäglichen Leids, das Russlands Krieg über so viele Kinder auf der ganzen Welt gebracht hat.
Indem Straßen bombardiert, Häfen blockiert und Minen in Getreidefeldern in der Ukraine verlegt wurden, hat Russland das Feuer einer weltweiten Nahrungsmittelkrise weiter angefacht.
Familien auf allen Kontinenten haben Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen, und Kinder gehen jeden Abend hungrig zu Bett.
Und nun droht Moskau durch seine Ankündigung, sich aus der Schwarzmeer-Getreide-Initiative zurückzuziehen, noch mehr Menschen mit Not und Elend.
Diese Initiative hat dazu beigetragen, die weltweiten Nahrungsmittelpreise zu senken – und war damit ein Rettungsanker für die schwächsten und am stärksten gefährdeten Menschen auf der Welt.
Wie der Generalsekretär feststellte, sind die Weizenpreise heute Morgen nach dem Rückzug Russlands aus dem Getreideabkommen sofort in die Höhe geschnellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
hier geht es um Menschlichkeit. Hier geht es um uns.
Deshalb fordere ich Russland auf: Hören Sie auf, Hunger als Waffe zu benutzen.
Hören Sie auf, Kinder zu entführen.
Beenden Sie diesen unrechtmäßigen Krieg gegen die Ukraine – im Namen der Menschlichkeit.